Die Schatten der Entscheidung

War er es wirklich? Nein, das konnte er doch nicht sein! Oder vielleicht doch? Katja hielt sich die Hand schützend über die Augen, damit die Sonne sie nicht so sehr blendete. Ca. 50 m weiter hatte sich eine kleine Gruppe um eine Grillstelle versammelt und der Klang einer Stimme hatte sie nervös gemacht. Diese tiefe und doch irgendwie zärtliche Stimme kannte sie und sie brauchte auch nicht lange überlegen, woher. Es musste Pierre sein. Sie hätte diese Stimme unter tausend anderen erkannt, war sie es doch, die ihr vor 3 Jahren regelmäßig eine Gänsehaut beschert hatte. Nun sah sie ihn auch, nur von hinten, aber sie war sich ganz sicher. Die dunklen kurzen Haare, das breite Kreuz und die muskulösen Beine machten ihre Befürchtung wahr. Katja hatte nicht damit gerechnet ihn noch einmal wieder zu sehen, doch nun stand er da, nur wenige Meter von ihr entfernt und ihr Herz schien stehen zu bleiben. „Ey Träumerle, aufwachen!“, die Stimme von Kerstin, ihrer Schwägerin, holte sie in die Wirklichkeit zurück. „Ist dir der heilige Geist erschienen? Du guckst so verstört! Na ja, anstatt hier herum zu stehen, könntest du ja mal deinem Bruder helfen, die Grillsachen auszupacken!“ Katja nickte nur. Heilig war der Geist zwar nicht, der ihr erschienen war, aber die Wirkung dieser Erscheinung war wohl dieselbe. Noch einmal richtete sie den Blick auf die Gruppe, doch Pierre war nicht mehr zu sehen. Hatte sie sich doch nur getäuscht?

Während Katja ihrem Bruder half, kreisten ihre Gedanken weiterhin um Pierre. Ihre erste Begegnung kam ihr in den Sinn. Er hatte damals aushilfsweise den DJ für die Dorfdisko gespielt und als Katja ihn zum ersten Mal sah, war es gleich um sie geschehen. Er war genau so, wie sie sich ihren Traummann vorstellte. Schnell kamen sie ins Gespräch und den Rest des Abends verbrachte sie mit ihm hinter seinem Musikpult. Irgendwann hatte er ihr tief in die Augen geschaut und ihr den Kopfhörer gereicht. Um sie herum tanzten alle wild zu den neuesten Sounds, doch sie hörte nur Aerosmith, die unaufhörlich „Crying“ in ihren Kopf hineinbrannten. Sie hatte das Lied gehört, Pierre dabei angeschaut und wusste in dem Moment, das auch er sie mochte. Der Abend ging leider viel zu schnell vorbei und als sie am nächsten Morgen verliebt-lächelnd am Frühstückstisch saß, wurde sie sogleich von ihrer Mutter ausgefragt. Es stellte sich heraus, dass ihre Eltern Pierre kannten, ja sie selbst „kannte“ ihn sogar. Seine Grosseltern hatten mal neben den ihren gewohnt und Pierre hatte sie früher im Kinderwagen umhergefahren. In der nächsten Zeit hatten Katja und Pierre sich oft gesehen und noch öfter telefoniert. Vielleicht wäre es alles einfacher gewesen, wenn da nicht diese Altersunterschied gewesen wäre. Sie war gerade mal 16 und Pierre schon 27. Wirklich gestört hat es sie nicht, aber es hielt beide davon ab, den ersten Schritt zu tun. Irgendwann, als sie mal wieder bei ihm anrief, ging sein Vater ans Telefon. Pierre war nicht da, er war bei seiner Frau, erzählte er Katja. Ohne noch ein Wort zu sagen hatte sie aufgelegt und war in Tränen ausgebrochen. Wie hatte er ihr das nur verschweigen können?

Von diesem Tag an hatte sie ihn nie wieder gesehen und seine unzähligen Anrufe ließ sie unbeantwortet. Ein Jahr später war sie dann weggezogen. Vergessen hatte sie ihn seitdem aber nie. Ihre Reise in die Vergangenheit wurde unterbrochen, als Kerstin sich zu ihr gesellte. Sie schaute Katja fragend an und wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus. Kerstin kannte die Geschichte mit Pierre und als sie hörte, dass dieser Traumprinz auch am See sein sollte, schaute sie sich neugierig um. Gemeinsam suchten sie mit ihren Blicken die Gegend ab und tatsächlich, er stand mit einem Mädchen am Ufer des Sees. In Katjas Herz war ein deutlicher Stich zu spüren, als sie ihn dort sah. War das seine Freundin? Kurze Zeit später drehte sich das Mädchen allerdings weg und ging. Pierre blieb allein am Ufer stehen und blickte auf das Wasser. „Du hast wirklich nicht übertrieben mit seiner Beschreibung“, sagte Kerstin. „Er sieht ziemlich lecker aus. Aber worauf wartest du noch? Geh hin und sprich ihn an, du kannst ihn doch nicht schon wieder einfach so verschwinden lassen.“ Katja schaute zu Pierre hinüber und sofort stiegen die Gefühle von damals in ihr hoch. „Ja, ich werde ihn nach dem Essen ansprechen“, sagte sie mehr zu sich, als zu Kerstin. Der Geruch von den Bratwürsten lockte sie zum Grill. Während Katja da saß, aß und sich mit den anderen unterhielt, ließ sie Pierre nicht einen Moment aus den Augen. Ihre Hände zitterten schon jetzt vor Nervosität, doch sie wusste, dass sie ihn ansprechen musste. Ansonsten würde sie das ewig bereuen.

Die Gelegenheit ergab sich schon bald, als Pierre aus dem kleinen Waldstück neben ihrem Grillplatz herauskam. Anscheinend hatte er etwas Reisig für ein Lagerfeuer gesammelt und nun kämpfte er mit einem widerspenstigen Zweig. Katja nahm all ihren Mut zusammen und brachte ein „Hallo Pierre“ hervor. Irritiert sah er sich um und als er Katja entdeckte erstarrte sein Gesicht. Vollkommen ungläubig ging er die paar Schritte zu ihr hinüber und sein Duft stieg Katja in die Nase. „Katja, bist du das wirklich?“, noch immer irritiert starrte er sie an. Als Antwort brachte sie nur ein Lächeln zustande und das war auch genug. Kurze Zeit später saßen sie gemeinsam am Lagerfeuer und redeten über Gott und die Welt. Was damals passiert war, sprachen sie aber nicht an. Seine Hand legte sich bald auf die ihre und die Wärme, die von ihr ausging, brachte Katja fast um den Verstand. Immer öfter begegneten sich ihre Augen und versanken ineinander. Stefan, Katjas Bruder, riss sie unsanft aus einem solchen Augenblick. „Kommst Du? Wir wollen jetzt fahren, haben uns noch mit anderen im Billard-Café verabredet!“ Pierre schaute sie kurz an und sagte dann: „Wenn du willst, kann ich dich nachher nach Hause bringen, wir haben uns noch soviel zu erzählen!“ Sein Blick sagte Katja allerdings noch viel mehr und sie entschied sich, noch dazubleiben. Kaum war Stefan mit den anderen verschwunden, schlug Pierre einen Spaziergang vor.

Hand in Hand schlenderten sie am Ufer lang, als Pierre die Frage stellte, vor der sich Katja gefürchtet hatte: „Was war damals los? Warum wolltest du mich plötzlich nicht mehr sehen?“ Katja musste tief schlucken, bevor sie ihm von dem Telefonat mit seinem Vater erzählte. Pierre schaute betroffen zu Boden: „Ja, das stimmt, ich war verheiratet, allerdings lebte ich zu der Zeit schon von ihr getrennt. Ich war bei ihr, um einiges wegen der Scheidung zu besprechen. Natürlich hätte ich dir das sagen müssen, aber ich konnte nicht. Du warst gerade 16, die Situation war so schon schwer genug und ich hatte Angst, du würdest es nicht verstehen.“ Pierre sah auf und ihre Augen trafen sich wieder. Er sah die Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern und nahm sie fest in die Arme. Katja fühlte sich so gut wie noch nie. All ihre Bedenken waren verflogen und die Jahre, die sie ihn nicht gesehen hatte, waren vergessen. Pierres Kopf drehte sich zu ihr und zum ersten Mal spürte sie seine Lippen bei einem endlosen Kuss. Sie hatten viel aufzuholen und konnten sich nicht voneinander lösen. „Ich hab dich die ganze Zeit über nicht vergessen können“, presste sie zwischen 2 Küssen hervor. Pierre lächelte nur und zog sie in Richtung des Sees. Während sie sich weiter küssten, zogen sie sich gegenseitig aus und mit Badeanzug und Shorts bekleidet, ließen sie sich langsam in das warme Wasser fallen, das nur vom Mond erleuchtet wurde. Je mehr ihre Körper vom Wasser bedeckt wurden, desto intensiver wurden ihre Küsse. Sie schmeckte ihn und das Verlangen wurde immer stärker. Unter der Wasseroberfläche berührten sich ihre Körper und pressten sich fest aneinander. Sie glaubte jeden seiner Muskeln zu spüren und schlang ihre Beine um seine Hüften, damit sie ihm noch näher sein konnte.

Pierre ließ derweil seine Hände über ihren Rücken gleiten. So lange hatte er sich nach diesem Moment gesehnt, und jetzt, wo es endlich soweit war, musste er sich sehr zusammenreißen um nicht gleich über sie herzufallen. Ihre Haut fühlte sich so gut an und er hatte den süßlichen Geruch ihres Parfums in der Nase. Es war derselbe Geruch wie damals und seine Lippen wanderten über ihren Hals. Der Geschmack ihrer Haut vermischte sich mit dem des Wassers und er fühlte sich ihr näher, als er je einer Frau gewesen war. Die Beine, die ihn umschlangen, nahmen ihn fest in den Griff und er wünschte sich plötzlich, für immer zwischen ihnen gefangen zu sein. Katja genoss die Lippen auf ihrer Haut. Alles um sie herum verschwamm und sie nahm nicht wahr, wie sich der kleine Grillplatz nach und nach leerte. Die Zärtlichkeit, die er ihr gab, war unbeschreiblich. Sie ließ sich fallen, in ein Meer aus Gefühlen und Empfindungen und gab sich ihm ganz und gar hin. Pierres Hände schoben die Träger ihres Badeanzugs herunter und als ihre Brüste das Wasser berührten, stöhnte sie schon auf. Ganz langsam ging Pierre wieder auf das Ufer zu und legte Katja ins seichte Wasser einer kleinen Böschung. Der Blick, der über ihren Körper glitt sprühte vor Zärtlichkeit und Verlangen. Seine Augen verwandelten sich in eine Zunge, die jede noch so verborgene Stelle ihres Körpers liebkoste.

Gegenseitig erkundeten sie sich mit den Händen und verliehen ihrer Liebe Ausdruck. Sie ließen sich viel Zeit, wollten nichts überstürzen und machten die Nacht zu einer Ewigkeit aus Gefühlen. Es dämmerte bereits, als sie endlich ineinander versanken und mit den ersten Sonnenstrahlen dem Gipfel entgegenströmten. Erst als sie vollkommen erschöpft übereinander zusammenfielen, bemerkten sie, wie kalt das Wasser inzwischen geworden war. Schnell gingen sie heraus wickelten sich in eine Decke und betrachten schweigend aneinandergekuschelt den Sonnenaufgang. Sie brauchten nichts sagen, denn beide wussten, dass diese Nacht der Beginn einer gemeinsamen Zukunft war. Eine Zukunft, in der sie füreinander bestimmt waren.

Aber leider gingen Katja und Pierre auch zukünftig ihre eigenen Wege. Der Moment, indem sich Katja entscheiden musste, ob sie mit ihrem Bruder ging oder bei Pierre blieb, verlief anders, als in ihren Vorstellungen. Aus Angst vor ihren eigenen Gefühlen ging sie mit ihrem Bruder. Nie wird sie Pierres Blick vergessen, seine Augen, die sie überrascht und unendlich traurig anschauten. Noch heute, einige Jahre später, sieht Katja diese Augen vor sich. Inzwischen ist sie verheiratet, doch Pierre ist noch immer bei ihr. Immer wieder stellt sie sich die Frage, ob ihre Fantasie von der Nacht wahr geworden wäre, doch sie wird wohl nie eine Antwort darauf bekommen. Der Schatten der Vergangenheit begleitet sie jeden Tag und jede Nacht. Und immer dann, wenn „Crying“ im Radio läuft, wünscht sie sich, ihre Entscheidung wäre anders ausgefallen.